Das erste, was mir von den Hettingern in der Erinnerung haftet, ist ein Kompliment.
Damals war ich noch weit davon entfernt, mich an ein männliches Wesen zu binden. Ein paar Traumprinzen gab es schon, aber diese suchte ich ganz bestimmt nicht auf der Alb.
Anders als meine Schwester. Sie hatte ein solches Exemplar an Land gezogen, vielleicht war es ja umgekehrt, so genau weiß man’s ja nie. Am besten klappt es wohl, wenn die Anziehung auf Gegenseitigkeit beruht.
Meine Schwester war nicht nur anderthalb Jahre älter als ich, sie hatte damals auch schon einen Führerschein. Um diesen beneidete ich sie sehr, und damit ich nicht zu Hause einsam und allein rumsitzen musste, begleitete ich sie auf die Alb zu ihrem Herzallerliebsten.
Älbler scheinen Rudelwesen zu sein. Auf jeden Fall fuhren wir an diesem Sonntag nicht zu dritt, sondern zu acht „über die Dörfer“; fünf Jungmänner hatten sich uns angeschlossen.
Da saßen wir nun, in einer Wirtschaft in Sigmaringen. Das Liebespaar war sich selbst genug, sie küssten sich, als sei dies demnächst verboten oder als müssten sie die letzte Woche nachholen und für die nächste schon mal vorsorgen. Wir saßen dabei wie bestellt und nicht abgeholt und konzentrierten uns notgedrungen auf diese beiden, die ihrerseits uns keinerlei Beachtung schenkten.
Meine Mutter fiel mir ein. Sie würde jetzt sagen: „Ich kann es nicht sehen, wenn ich es nicht selbst bin.“ Und dann fiel mir noch ein geflügeltes Wort ein, das bei uns zu Hause eingesetzt wurde, wenn eins von uns Kindern sich benachteiligt fühlte. Irgendeiner sagte dann: „Und wer liebt mich?“, und ein anderer antwortete: „die Wohlfahrt“.
In Abwandlung des Fragespiels sagte ich in Richtung meiner Schwester: „Und wer küsst mich?“ Worauf sie antwortete: „Die Wohlfahrt“.
Das war das Stichwort für fünf Jungmänner aus Hettingen: „Guten Tag, wir sind die Herren von der Wohlfahrt!“
aus: Gabriele Loges: Hier wie anderswo, Geschichten aus Hettingen. Vechta 2007.